85. Sitzung vom 09.02.2023 – Top ZP 3 Aktuelle Stunde: Drohender Kollaps des System Kita
Anne Janssen (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fasse mich kurz.
(Christoph Meyer [FDP]: Werden wir sehen, nicht?)
Zur Sache: 85 Dezibel beträgt die Lautstärke eines Motorrades, eines Rasenmähers oder auch eines Laubsaugers – ein Lärmpegel, der bei längerer Dauer zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann und der Grund dafür, warum die betroffenen Berufsgruppen Gehörschutz tragen. 85 Dezibel beträgt aber auch die durchschnittliche Lautstärke in unseren rund 60 000 Kitas, in denen unsere Kleinsten tagtäglich betreut werden.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist das!)
Es wird getobt, es wird gelacht, es wird gespielt, es wird gesungen, manchmal wird auch geweint – unbedingt nötige Entwicklungszeit und selbstverständlich kein negativer Lärm, aber eben auch eine permanente Belastung, die zu Stress führen, an die Substanz gehen und auf die Dauer krank machen kann. Dennoch ist sie nur eine von unzähligen Herausforderungen für unsere Fachkräfte vor Ort; denn neben den vielfältigen Belastungen wachsen gleichzeitig auch die Anforderungen und Erwartungen an die Betreuung: Kinder kommen immer häufiger mit Sprachbarrieren, individuellen Entwicklungsdefiziten oder einem erhöhten Förderbedarf in die Kita. Zudem fallen viele Kompetenzen, die früher selbstverständlich in der Familie vermittelt wurden, heute auf das Kitapersonal zurück. Wer in den letzten Monaten die Berichterstattung verfolgt hat, kam um Schlagzeilen zu Kitaschließungen, verzweifelten Eltern und überforderten Erzieherinnen und Erziehern nicht herum. Insbesondere die letzte Erkältungs- und Grippewelle brachte das System völlig an seine Grenzen. Verkürzungen der Öffnungszeiten, Zusammenlegung der Gruppen sowie kurzzeitige Schließungen der gesamten Einrichtungen waren die Folge. Dass im Herbst und Winter eine solche Krankheitswelle durch das Land zieht, ist erst einmal nicht ungewöhnlich; doch trifft diese Welle mittlerweile auf Fachkräfte und Familien, die nach vielfältigen Krisen kaum noch Ressourcen haben.
Seit 2008 wurden von der unionsgeführten Bundesregierung mehr als 5 Milliarden Euro investiert und 750.000 zusätzliche Kitaplätze geschaffen. Nach diesem massiven Ausbau der Betreuungskapazitäten ist auch der Personalbedarf immens: Bis 2025 fehlen nach einer aktuellen Expertenschätzung nun rund 180.000 pädagogische Fachkräfte in den Kitas.
Der Anlass dieser Aktuellen Stunde ist also durchaus nachvollziehbar. Aber in Anbetracht der Betreuungssituation in unserer rot-rot-grün regierten Bundeshauptstadt wundere ich mich über die Position der fordernden Fraktion. Denn eine erst vor Kurzem von der Berliner CDU gestellte Anfrage offenbarte einen enormen Missstand: Laut der Senatsverwaltung wurden bis Dezember 2022 im vergangenen Jahr unfassbare 238 massive Personalunterschreitungen von den Trägern in Berlin gemeldet. Viel zu tun, würde ich sagen.
(Beifall der Abg. Nina Warken [CDU/CSU] – Nina Stahr [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie das denn in den CDU-Ländern auch mal abgefragt?)
Was können wir tun? Während sich die Ausbildungskapazitäten für Erzieherinnen und Erzieher in den letzten Jahren bereits verdoppelt haben, sollten jetzt auch andere, beispielsweise ältere Zielgruppen, für neue Ausbildungsformate und Quereinstiege in den Blick genommen werden – so der aktuelle Nationale Bildungsbericht. Ebenso könnte ausscheidendes Personal für einen Verbleib und Teilzeitbeschäftige zu mehr Stunden motiviert werden. Hier sind attraktive und familienfreundliche Arbeitsbedingungen, die vor allem den psychischen und physischen Gesundheitsschutz stärken, der Schlüssel. Mittelfristig wird aber vor allem eins vernachlässigt: das Potenzial der Auszubildenden. Zwischen 100000 und 150 000 Studierende sind in pädagogischen Hochschulstudiengängen eingeschrieben und könnten als Werkstudenten angeworben werden, sofern die Länder ihre Ausführungsgesetze und Personalverordnungen anpassen.
(Dr. Götz Frömming [AfD]: Warum nicht!)
Das wäre eine gewaltige Ressource, besonders in den großen Städten. Ich wünsche mir, dass der wichtige Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nicht nur auf dem Papier besteht. Ich wünsche mir, dass unsere Erzieherinnen und Erzieher ihren Beruf wieder als Profession aus Leidenschaft ausüben können. Und für unsere Kinder wünsche ich mir Lern- und Lebensorte und keine Aufbewahrungsstätten.
(Marianne Schieder [SPD]: Die haben wir auch nicht!)
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)